Auch Triest hat seinen Canal Grande. Der ist aber ganz anders als sein berühmter Namensvetter in Venedig – eigentlich ziemlich piccolo. Aber dennoch sehenswert.
Nicht nur die Länge (371 Meter zu 4 Kilometer) macht den Unterschied: Während der viel berühmtere Canal Grande von Venedig de facto nichts anderes ist als das letzte Stück des nördlichen Armes des Flusses Brenta (und dort deshalb das Wasser stets fließt), so ist sein Namensvetter in Triest ein stehendes, direkt mit der Adria verbundenes Gewässer. Das im übrigen künstlich angelegt und damit sehr viel jünger ist. Seine Geschichte hat direkt mit der Herrschaft der Habsburger über die Stadt zu tun.
Es war 1719, als Triest vom Habsburger Karl VI. zum Freihafen erhoben wurde und einen beispiellosen Aufstieg erlebte. Die Stadt platzte bald aus allen Nähten – der Hafen sowieso. Doch wohin vergrößern? Unter Karls Tochter Maria Theresia hatte man schließlich die zündende Idee: die längst nicht mehr benötigten Salinen am westlichen Rand der Stadt trockenlegen, nach dem Vorbild norddeutscher Hafenstädte ein Netz von schiffbaren Kanälen anlegen und an dessen Rändern Lagerhäuser hochziehen. Gesagt, getan: Binnen 12 Jahren, zwischen 1754 und 1766 wurde der Kanal vom venezianischen Architekten Matteo Pirona angelegt. Er sollte der einzige bleiben. Wo die anderen geplant waren, nämlich an den Begrenzungen der Salzfelder, entstand ein rechtwinkeliges Netz von Straßen. Am Stadtplan und aus der Luft sind die Umrisse der Salinen noch auf den ersten Blick zu erkennen. Das neu entstandene Stadtviertel ist heute noch nach Maria Theresia benannt („Borgo Teresiano“), der Canal Grande, der es mittig durchschneidet, blieb lange Zeit der Lebensnerv des Handelszentrums der Stadt, in dem sich rasch mehrstöckige Geschäfts- und Wohnhäuser, aber auch Kirchen ansiedelten.
Die stolzen Handelsschiffe, die einst vor der Bora geschützt im Canal Grande ankerten, sind heute genauso verschwunden wie die drehbaren Brücken, die geöffnet werden konnten, wenn Schiffe passieren mussten. Bloß ein paar flache Fischerboote sind es, die sich während der Ebbe unter den drei Brücken hindurchzwängen und dann an den Kais vertäut werden. Die zwei Kais reichten früher noch weiter in die Stadt hinein: Der Kanal reichte einst bis zu der 1842 am Kanal-Ende errichteten Kirche Sant’Antonio Taumaturgo. Doch 1934, als Teile des Ghettos und der Altstadt abgerissen und durch Monumentalbauten im faschistischen Stil ersetzt wurden, schüttete man das Abbruchmaterial einfach in seinen Endabschnitt.
Den Beginn des Canal Grande markiert eine Brücke an der Uferstraße, an deren Enden zwei monumentale Gebäude stehen. Am linken Kanalufer Triests erstes Hochhaus, der 1928 im Backstein-Art Deco-Stil entstandene Palazzo Aedes, am rechten der 1805 fertiggestellte Palazzo Carciotti, in dem 1816 Metternich residierte und 1831 der erste Sitz der Generalisierung-Versicherung war. Die wenigen verbliebenen Lagerhäuser haben längst ihre Funktion verloren. In sie sind heute Geschäftslokale, Restaurants und Bars eingezogen. Speziell die westliche linke Seite des Kanals ist zu einer beliebten Flanierzone geworden. An den Palazzo Aedes schließt der Palazzo Gropcevich an, in dem ein kleines Musikmuseum untergebracht ist, das Museo Teatrale Carlo Schmidl.
Kurz danach folgt eine erst vor kurzem errichtete Fußgängerbrücke, die Passaggio Joyce. Der Volksmund nennt sie allerdings „Ponte Curto“, was im Triester Dialekt so viel wie „kurze Brücke“ bedeutet: Sie war um ein paar Zentimeter zu kurz geraten. Ausreichend groß geriet hingegen die Ponte Rosso, die zu Triests einst größtem Marktplatz führt. Über sie scheint James Joyce zu schreiten, zumindest in Form einer lebensgroßen Bronze-Statue, die 2004 aus gutem Grund hier aufgestellt wurde: 100 Jahre zuvor kam der irische Schriftsteller in Triest an, um an der Berlitz School Englisch zu unterrichten. Und eben diese Berlitz School lag an der Piazza Ponterosso. Der Schöpfer des „Ulysses“ ist also auf dem Weg zur Arbeit…
Viele junge Menschen überqueren hier abends die Via Roma, denn die Pizzeria auf der anderen Straßenseite, die zur Kette „Fratelli la Bufala“ gehört, ist sehr beliebt. An der nächsten Kreuzung folgt ein Eissalon, und nach Überquerung der Via Fabio Filzi das Bollicine, eine beliebte Kombination aus Bar und Restaurant, sowie eine weitere Pizzeria. Hier sitzen die Gäste allerdings nicht mehr am Canal Grande, sondern auf dem Platz vor der Kirche, der einst Teil des Kanals war. Und sie haben nicht nur die Kirche Sant’Antonio vor Augen, sondern auch die Seitenfront der schönsten serbisch-orthodoxen Kirche der Stadt, der Basilika San Spiridione. Ein Blick ins Innere lohnt sich!