Veit Heinichen: Entfernte Verwandte

Neue Spannung für alle Fans von Veit Heinichens Triest-Krimis: Nach bald vier Jahren Pause lässt der Erfolgsautor seinen Commissario Laurenti wieder ermitteln. Er taucht dabei in die dunkelsten Kapitel der Geschichte der Stadt ein.

Zwanzig Jahre nach dem ersten seiner Triest-Thriller legt der in der Adria-Hafenstadt lebende Autor Veit Heinichen nun Commissario Laurentis elften Fall vor. Wieder ist es – obwohl die meisten Leserinnen und Leser seine Bücher so bezeichnen – kein simpler „Krimi“ geworden, sondern ein komplexer und höchst spannender gesellschaftlicher Roman. „Für mich ist der Roman die ideale Erzählform“, sagt Heinichen, „damit lassen sich gesellschaftliche Entwicklungen auf die Gefühlslage der Protagonisten herunterbrechen und sehr gut wiedergeben.“

Ein Mord im Karst über Triest. An einem Partisanendenkmal in der Nähe der Ortschaft Prosecco wird eine Leiche gefunden. Ein 74 Jahre alter Mann, dahingerafft vom präzisen Schuss einer Kampfarmbrust mitten ins Herz. Das Denkmal mit dem Roten Stern – mit einem Hakenkreuz geschändet. Die Farbe ist noch so frisch wie das Blut an seiner Brust. Laurenti ist nach ein paar Minuten am Tatort sofort klar, dass der Mord etwas mit der Geschichte Triests zu tun haben muss. Aber nicht mit der Rolle der Stadt als wichtigster Hafen der Habsburgermonarchie, die von vielen auswärtigen Besuchern, aber auch von gar nicht so wenigen ihrer heutigen Bewohner verklärt wird. Sondern mit dem dunklen Kapitel in den letzten Jahren vor und den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die aus Karstgestein errichtete Gedenkstätte erinnert an ein Massaker, das sich Ende Mai 1944 in einem von den deutschen Besatzern errichteten Arbeitslager am nahegelegenen Bahnhof von Prosecco ereignet hatte: Weil drei zum Wachpersonal gehörende Carabinieri von Unbekannten getötet wurden, holten die Besatzer zehn wahllos ausgesuchte politische Geiselhäftlinge aus dem Triestiner Coroneo-Gefängnis, um sie vor den Augen aller Lagerinsassen zu erschießen – an eben diesem Platz.

Der historische Hintergrund, den Veit Heinichen recherchierte, sich dabei durch Archive wühlte und die letzten noch lebenden Zeitzeugen befragen konnte, gilt als dunkelstes Kapitel der Geschichte Triests: Nach dem Sturz Mussolinis wurden die Stadt und ihr Umland schlagartig von den Nazis besetzt, unterstanden aber nicht der Wehrmacht, sondern von direkt Berlin und SS-Chef Heinrich Himmler. In der damit neu geschaffenen „Operationszone Adriatisches Küstenland“, zu der u.a. große Teile von Friaul-Julisch Venetien und ganz Istrien gehörten, wurde das einzige Vernichtungslager auf italienischem Boden errichtet, in der ehemaligen Reisfabrik Risiera di San Sabba in Triest – von den gleichen „Spezialisten“, die sich schon in Belzec, Sobibor und Treblinka bewährt hatten. Das alles stärkte auch den Widerstand, den es bereits seit den dreißigern in der Region gab. Es kam zu offenen wie versteckten Kämpfen zwischen kommunistischen slowenischen Partisanenverbänden, antikommunistischen konservativ-katholischen slowenischen Heimwehrverbänden, liberalen friulanischen Widerstandsorganisationen, italienischen Faschisten und deutschen Truppen. Die Lage war extrem unübersichtlich.

Ein richtiger Thriller. Es dauert nicht lange, bis ein zweiter Mord passiert. Bei der brutalistischen, bis weit nach Istrien auszumachenden Monumentalkirche am Monte Grisa wird ein weiterer Toter gefunden, der ebenfalls mit einer Armbrust hingerichtet wurde. Laurenti ist sich sicher: Das wird nicht der letzte Tote sein. Was er irgendwie ahnt, aber noch nicht weiß: Die Mörder sind dabei, eine Liste von angeblichen Kriegsverbrechern und Kollaborateuren der deutschen Besatzungszeit aus dem Nachlass einer entfernt verwandten Tante „abzuarbeiten“. Sie wollen Rache üben an den letzten noch lebenden italienischen und deutschen Tätern oder deren Nachfahren. Es kommt zu einem Wettlauf mit der Zeit, Disputen mit dem Staatsanwalt und zu einem weiteren Mord, der nur knapp nicht vereitelt werden kann.

Die Quintessenz des Buchs ist die Suche nach der historischen Wahrheit. Aber gibt es die überhaupt? Oder ist alles doch nur davon abhängig, wer sich am Ende durchgesetzt und die Deutung über die Geschichte hat? Gab es ein Gut und ein Böse? Abgründe tun sich auf, denn auf allen Seiten gab es Mörder: „Egal ob Italiener, Deutsche, Österreicher, Slowenen, Serben, Kroaten, alle hatten Blut an den Händen“, heißt es an einer Stelle des Romans, „und alle taten es nur für eine bessere Welt“. Dass der Commissario am Ende wieder einen Fall gelöst hat, ist bei „Entfernte Verwandte“ eigentlich zweitrangig.

Das Buch. Veit Heinichen: Entfernte Verwandte, erschienen bei Piper, 320 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, EAN 978-3-492-07062-1, € 20,00 (D), E 20,60 (A).
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